Das Pelmeni-Bistro auf der oberen Alaunstraße ist ein kulinarisches und kulturelles Kleinod. Beim Übertreten der Schwelle vermeint man, tief im Herzen setze Väterchen Frost dazu an, die Melodie der Wolgaschlepper auf einer Balalaika zu spielen. Im Mund läuft das Birkenwasser zusammen und im Geiste kristallisiert sich der dringliche Wunsch heraus, sich mit einigen Gläsern vom Wodka des Lebens weit hinter den Ural zu träumen.
Petro Kolesnyk schließt für das Interview das Geschäft eine Stunde früher als üblich auf. Ganz ohne Gäste wirkt das Innere karg. Es fühlt sich an, als hätte man die Wohnung in Großmütterchens Abwesenheit betreten. Petro serviert eine waldmeistergrüne Limonade. „Estragon“, erklärt er.
Die Wand hinter uns symbolisiert die Geschichte Russlands. Auf der linken Seite zieren Herrscherporträts eine aristokratische Tapete: Die Zarenzeit. Sie nimmt ihr Ende durch die Revolution, dargestellt durch einen zerbrochenen Spiegel. Die Tapete muss ab hier historischen Zeitungstitelblättern weichen, die die gesamte zweite Hälfte der Wand einnehmen. Die Entwicklungen überschlagen sich. Doch da, die Situation lichtet sich: Da steht Putin, mit einem Glas kühlen Gazprom-Bieres in der Hand und lächelt väterlich.
Petro Kolesnyk übernahm das „Samowar“ im Jahr 2015, nachdem Vorbesitzer Alexander Tanz sich wieder seinem Lehrerberuf zuwenden wollte. Einrichtung, Speisekarte und das Ehepaar Weber, die für die Küche zuständig sind, übernahm der russischstämmige Gastronom, der vorher im Baugewerbe tätig war.
Zusätzlich zum „Samowar“ unterhält Petro ein Geschäft mit russischen Lebensmitteln auf der Schweriner Straße 44. Dort verkauft er dieselben Pelmeni, die auch das „Samowar“ bietet. Die Manufaktur befindet sich auf der Berliner Straße. Sieben MitarbeiterInnen stellen die Pelmeni von Hand her und hätte Petro es nicht mit eigenen Augen gesehen, hätte er es wohl nicht geglaubt, denn die Pelmeni sehen so gleichmäßig aus, als hätte eine Maschine sie produziert. Die Arbeitszeit vertreiben die MitarbeiterInnen sich mit Gesang.Das Publikum im „Samowar“ sei zu 98 Prozent deutsch, sagt Petro. Für russische Gäste seien Pelmeni nichts besonderes. Es ist eine Tradition, die kleinen Teigtaschen im Kreis der Familie in den kalten Monaten herzustellen. Die Mutter bereitet den Teig, der Vater die Füllung, die Kinder stechen den Teig aus. Die Pelmeni werden dann säckeweise eingefroren und in der Scheune oder dem Schuppen gelagert. Der russische Winter macht’s möglich. Ein gut portionierbarer Wintervorrat. Kommen Gäste zu Besuch, ist jederzeit schnell ein Gastmahl bereitet. Petro erzählt das wie ein Märchenonkel und fast meine ich, eine kühle sibirische Brise an der Wade zu spüren.
Jetzt, da die Webers Sommerurlaub haben, steht Petro selbst hinter dem Tresen. Eine Aufgabe, die er genießt. Er schätzt den Plausch mit den Gästen, er beobachtet gern und wenn er über die Menschen spricht, wird sein Blick so milde wie der von Putin an der Wand. Ein Gastwirt, der über das Studium des Menschlichen zu Weisheit gelangt ist: „Auf der Erde leben 7 Milliarden Menschen – und jeder hat seinen eigenen Charakter.“ Petro stammt aus dem östlichsten Osten Russlands, einer kleinen Stadt nahe der chinesischen Grenze.
Dann führte ihn sein Weg in die Ukraine, bis er in den 1990er Jahren nach Deutschland kam. Den Bezug zu Russland, sagt er, habe er verloren. Natürlich trifft man sich mit Freunden, erinnert sich, tanzt und trinkt. Aber er sieht sich und die Zukunft seiner Familie in Deutschland verankert. Vier Kinder hat er und hofft, dass eines das Bistro übernehmen wird. Das „Samowar“ soll ein Familienbetrieb bleiben.
Samowar Pelmeni Bistro
- Alaunstraße 84
- Montag Ruhetag, Dienstag bis Sonntag 11 bis 15 und 18 bis 0 Uhr